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Pfalzgalerie Kaiserslautern; Kunstmuseum Thun – 1. Mai 1992

Pfalzgalerie Kaiserslautern; Kunstmuseum Thun , 1992

GOTTFRIED HELNWEIN

von Gisela Fiedler-Bender

Es ist der Mensch, ausschließlich der Mensch, das menschliche Antlitz, der vom Leben gezeichnete Mensch. Es geht Helnwein nicht um die schöne Oberfläche des Gesehenen, nicht um ästhetischen Genuß an der Natur und um eine Bestätigung herkömmlicher ästhetischer Normen.
Sein Blick geht tiefer, genauer, unter die Oberfläche, hinter die Fassade. Und was er sieht, ist das, was wir nicht sehen wollen, was wir verdrängen und ausklammern möchten.
"Vergessen, verdrängen bedeutet aber resignieren; nur Bewußtes kann verändert werden, Unbewußtes natürlich nicht. Und so werden durchaus revidierbare Dinge erst durch Verdrängung unveränderbar", schreibt der österreichische Tiefenpsychologe und Psychotherapeut Erwin Ringel
- er sieht in seinem Heimatland, das das Ursprungsland der Psychoanalyse, das Geburtsland Siegmund Freuds ist, "eine Brutstätte der Neurosen."
Konnte die Kunst der Wiener Aktionisten, konnten die Aktionen von Nitsch, Mühl und Schwarzkogler nur in Wien entstehen, sind sie zu erklären als Reaktion auf eine repressive Erziehung, auf eine konservative Grundhaltung?

Haben wir nicht alle ein schon einmal vor einem Bild, einem Aquarell, einer Zeichnung von Gottfried Helnwein gestanden und waren schockiert und überrascht? Überrascht und unangenehm berührt von dem, was wir sahen, hilflos gegenüber einer grausamen Realität, die so wenig in die allgemeine Vorstellung von Kunst zu passen scheint, die so wenig mit dem zu tun hat, was wir in Bezug auf die Kunst zu wissen meinen? Kann man schön nennen, was so offensichtlich Grauen auslöst, oder ist es das Wahre, das sich so drastisch in Helnweins Bildern wiederspiegelt? Der Begriff der Schönheit ist so diffus und heterogen, wie es der Begriff Kunst auch ist - zwar decken sich die beiden Begriffe in einem Kernbereich, aber die Ränder sind verschwommen und die Künstler, die das Zentrum überlieferter Traditionen verlassen, die ihren eigenen Begriff von Schönheit und Wahrheit prägen, die Extreme suchen und unkonventionelle Wege gehen, stehen immer in der Gefahr, mißdeutet und verdammt zu werden.

Es ist 80 Jahre her, daß Kandinsky den Gegenstand aus seinen Bildern verbannte, daß Picasso die menschliche Gestalt verformte und Duchamp Alltagsgegenstände zu Kunstwerken erklärte - all das ist inzwischen zwar kunsthistorisch sanktioniert und verarbeitet; aber bei dem breiten Publikum, den im weitesten Sinne Kunstinteressierten, ist der Schock dieser alle Grenzen des "guten Geschmacks" überschreitenden künstlerischen Äußerungen auch heute noch wirksam. Oder Beuys - längst schon in der Kunstwelt als Anreger, Neuerer und Erweiterer der Bewußtseinsgrenzen anerkannt - ist noch immer weit davon entfernt, in der Allgemeinheit als der große Künstler anerkannt zu werden, der er war.

Diesen genannten Künstlern ist gemeinsam, daß sie mit Ihren Werken Neuland betraten, neue Formen der Darstellung fanden und damit den sicheren Boden des leicht Erkennbaren, Entschlüsselbaren und allgemein Verständlichen verließen; ihr Werk bedarf einer intensiven Beschäftigung, das Verständnis ihrer Werke wird sich kaum alleine durch unvoreingenommene Betrachtung erschließen.

Darin liegt der grundlegende Unterschied zu Gottfried Helnweins Bildern - sie scheinen keiner Interpretation zu bedürfen, ihre Darstellung ist klar erkennbar, ist deutlich und realistisch, von jedermann zu lesen. Was ist es also, was seine Arbeiten so schwer erträglich macht, was schockiert und abstößt? Nicht die Art der Darstellung, die anscheinend fotografische Genauigkeit, die altmeisterliche Qualität seiner Malerei - sie ist für ihn Nebensache. Priorität hat die Aussage: die Technik ist dem Gegenstand der Darstellung untergeordnet, ist zweitrangig. Welches ist nun der Gegenstand, der Helnwein zu seinen Bildern inspiriert, oder, besser gesagt, provoziert?

Es ist der Mensch, ausschließlich der Mensch, das menschliche Antlitz, der vom Leben gezeichnete Mensch. Es geht Helnwein nicht um die schöne Oberfläche des Gesehenen, nicht um ästhetischen Genuß an der Natur und um eine Bestätigung herkömmlicher ästhetischer Normen. Sein Blick geht tiefer, genauer, unter die Oberfläche, hinter die Fassade. Und was er sieht, ist das, was wir nicht sehen wollen, was wir verdrängen und ausklammern möchten.

"Vergessen, verdrängen bedeutet aber resignieren; nur Bewußtes kann verändert werden, Unbewußtes natürlich nicht. Und so werden durchaus revidierbare Dinge erst durch Verdrängung unveränderbar", schreibt der österreichische Tiefenpsychologe und Psychotherapeut Erwin Ringel - er sieht in seinem Heimatland, das das Ursprungsland der Psychoanalyse, das Geburtsland Siegmund Freuds ist, "eine Brutstätte der Neurosen." Konnte die Kunst der Wiener Aktionisten, konnten die Aktionen von Nitsch, Mühl und Schwarzkogler nur in Wien entstehen, sind sie zu erklären als Reaktion auf eine repressive Erziehung, auf eine konservative Grundhaltung? Man könnte es meinen, wenn man Ringels Ausführungen weiterverfolgt: "Wiederholte Umfragen haben ergeben, daß die drei wichtigsten Erziehungsziele des Österreichers lauten: Gehorsam, Höflichkeit, Sparsamkeit - von da kommt die Bereitschaft der Österreicher zu 'devotem Dienen' ... das Wort 'Glücklich-Sein' scheint gar nicht auf. Kinder werden eingeschränkt, eingeengt, dürfen keine Eigenexistenz führen, sind Werkzeuge, mit denen die Eltern ihre eigenen Ziele erreichen wollen". Vergeblich das Wort unseres großen Anton Wildgans; "Wer bist Du, daß Du nicht das Knie zu beugen brauchtest vor dem neuen Menschen".

Auch Gottfried Helnwein ist Österreicher und seine Haltung ist die des Protestes, des Angehens gegen die Verdrängung, das Verschweigen und gegen die Unterdrückung. Sein Protest schlägt sich nieder in den frühen Wiener Aktionen, aber auch in seinen Bildern, Aquarellen und Zeichnungen, in denen er von Anfang an für die Rechtlosen und Schwachen Partei ergreift. Er will provozieren, indem er den Menschen einen Spiegel vorhält, er will das Schweigen aufbrechen, das Tabuthemen umgibt. Ein besonderes Anliegen sind ihm die Kinder; ihre Verletzungen, sowohl die äußeren sichtbaren, wie auch die unsichtbaren, sind immer wieder Thema seiner Arbeit. Damit schockiert er den Betrachter, der unwillentlich in die Rolle des Zuschauers gedrängt wird und sich unbehaglich fühlen muß. Die detailgenaue, hyperrealistische Darstellungsweise, die kultivierte Maltechnik verstärken noch den Eindruck des Grauens; schön gemalt sind diese Aquarelle, doch was sie zeigen, ist erschreckend. Helnwein legt den Finger in eine Wunde, indem er sichtbar macht, was man verborgen halten möchte. Er gehört nicht zu den Künstlern, die sich abschließen von der Welt und sich in ihre eigene begrenzte Kunst-Welt zurückziehen. Er möchte wirken, gesehen werden, sich mitteilen, aufrütteln, Antworten und Reaktionen provozieren. Um das zu erreichen, ist ihm (fast) jedes künstlerische Mittel recht - neben den herkömmlichen Techniken ist auch die Fotografie sein Medium und der Offsetdruck. Für ihn und seine Anliegen sind die Unterschiede zwischen hoher Kunst und Trivialkunst, zwischen Original und Reproduktion aufgehoben, es gilt, den Menschen zu erreichen, nicht nur den Kunstsachverständigen, den Fachmann, den Bildungsbürger. Helnweins Bilder sind für alle, die sehen können, und folgerichtig ist für ihn die Gestaltung von Titelblättern, Plattencovern und Theaterplakaten keine Nebensache, sondern Mittel, seinen Bildern eine weite Verbreitung zu sichern, auch und vor allem unter den Menschen, die nie ein Museum betreten, nie ein Kunstbuch zur Hand nehmen. Sein Selbstbildnis mit dem bandagierten Kopf, den Gabeln in den Augen und dem zum Schrei geöffneten Mund ist wohl eines der bekanntesten Bildern unserer Zeit.

"Ich wollte immer eine Kunstform finden, eine künstlerische Sprache, mit der man Arbeiter, Lehrlinge, Angestellte, irgendwelche Leute erreichen kann", sagt Gottfried Helnwein in einem Gespräch mit Andreas Mäckler. Die Kunstgeschichte war in diesem Zusammenhang nicht wichtig. Vorbilder im eigentlichen Sinne existieren für Helnwein nicht, seine Kunst resultiert aus seinem persönlichen Erleben, aus der Reaktion auf seine Herkunft und seine Umgebung, sie ist eine Befreiung aus den frühen Zwängen und eine Rebellion gegen bestehende, als unsinnig empfundene Reglementierungen.

"... Rockmusik, Film und Comic Strips sind die Kunst des 20. Jahrhunderts - elementare Kunstformen, mitreißend, von einer elementaren Kraft und Intensität. Und diese Qualitäten habe ich bei den meisten abgesegneten Werken der Hochkunst ziemlich vermißt. Die sind im Vergleich dazu meistens blutleer, langweilig und haben wenig mit dem Leben und den Menschen zu tun". Für Helnwein wurden die Micky-Mouse Hefte der 50er Jahre, und da vor allem Donald Duck, zu einem frühen Schlüsselerlebnis, zur Begegnung mit einer neuen, wunderbaren Welt, deren Faszination ihn über die Kindheit hinaus nicht losgelassen hat.

"Ich habe von Donald Duck mehr über das Leben gelernt als in allen Schulen, in denen ich war". Einen seiner zahlreichen Aufenthalte in Amerika hat Helnwein dazu benutzt, den Zeichner des Donald Duck, Carl Barks, ausfindig zu machen und ihn zu fotografieren, so wie er zahlreiche prominente Zeitgenossen, Idole unserer Zeit, mit der Kamera festgehalten hat. Es sind eindringliche Portraits, schwarz-weiß, ohne Pose oder Staffage, konzentriert auf das Gesicht, den Ausdruck - und so genau gesehen, daß man dem Wesen des Dargestellten näher zu kommen meint. Diese genaue Beobachtungsgabe ist eine der Stärken Helnweins, dieses Gespür für alles Menschliche. Deshalb treffen seine Arbeiten so oft den Punkt, oft genug den wunden Punkt, und deshalb ist es so schwierig, sich seiner Kunst gegenüber neutral zu verhalten. Er polarisiert seine Betrachter: Zustimmung oder Ablehnung, ein Mittelmaß ist nicht möglich. Kunst ist für ihn eine Form der Kommunikation, seine Bilder sind Mitteilungen, Aussagen, die manchmal zu Botschaften werden.

Helnweins Arbeiten lösen Unsicherheit aus und setzen Emotionen frei. Es sind diese "Risse in der Realität" die er aufspürt und sichtbar macht, um den Betrachter zu einem nachdenklichen Zuschauer werden zu lassen.

(Pfalzgalerie Kaiserslautern - 31. Mai bis 5. Juli 1992; Kunstmuseum Thun - 19. Juli bis 6. September 1992)

01.May.1992 Pfalzgalerie Kaiserslautern; Kunstmuseum Thun - 1992 Gisela Fiedler-Bender