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Theater heute – 1. Mai 1988

Stage and costume design for Shakespeare's "Macbeth", 1988

SHAKESPEARE UND SIGMUND FREUD ALS TANZTHEATER: ZEIGE DEINE WUNDE

von Peter von Becker

Wie Johann Kresnik und Gottfried Helnwein die Geschichte des "Macbeth" in Heidelberg neu erzählen
Der Vorhang im Theater ist rot wie Blut, die Bühne dahinter so weiß wie Schnee, und die Geschichte, die folgt: ein schwarzes Märchen. Natürlich gleicht die riesenweiße Szenerie, auf der - wie weiße Särge - ein Dutzend oder mehr Badewannen stehen, liegen, an die Wände gestellt sind, schon auf den ersten Blick dem Operationssaal einer Klinik oder, ein Schritt weiter, dem Leichenschauhaus. Auch ahnen wir, daß die leeren durchsichtigen Plastikschläuche rundum nicht etwa als modische Neonschlingen dienen, sondern sich recht bald mit roter Farbe füllen werden. Es sind dann: Blutbahnen.
Allem kalten Grusel zum Trotz hat dieser Saal in seiner klinischen Helle auch Chic. Erinnert an die weiße Disco-Welle. Und es wird hier ja getanzt werden, denn auf dem Programm steht als Uraufführung "Macbeth", Choreographisches Tanztheater von Johann Kresnik, Musik Kurt Schwertsik, Ausstattung Gottfried Helnwein.
Wie schön, daß im Theater bislang noch jeder Zuschauer seinen eigenen Analytiker spielen kann. Auch bei Doktor Kresnik und Professor Helnwein. . . Die beiden machen Heidelbergs Theater eine Reise wert.

Stage and costume design for Shakespeare's "Macbeth", 1988

Der Vorhang im Theater ist rot wie Blut, die Bühne dahinter so weiß wie Schnee, und die Geschichte, die folgt: ein schwarzes Märchen. Natürlich gleicht die riesenweiße Szenerie, auf der - wie weiße Särge - ein Dutzend oder mehr Badewannen stehen, liegen, an die Wände gestellt sind, schon auf den ersten Blick dem Operationssaal einer Klinik oder, ein Schritt weiter, dem Leichenschauhaus. Auch ahnen wir, daß die leeren durchsichtigen Plastikschläuche rundum nicht etwa als modische Neonschlingen dienen, sondern sich recht bald mit roter Farbe füllen werden. Es sind dann: Blutbahnen.

Allem kalten Grusel zum Trotz hat dieser Saal in seiner klinischen Helle auch Chic. Erinnert an die weiße Disco-Welle. Und es wird hier ja getanzt werden, denn auf dem Programm steht als Uraufführung "Macbeth", Choreographisches Tanztheater von Johann Kresnik, Musik Kurt Schwertsik, Ausstattung Gottfried Helnwein.

Mit donnerndem Wumm öffnet sich, kaum hat das Spiel begonnen, eine Eisentüre am Ende des Saales, und wie aus der Nacht der Welt in die Blendwerkstatt des Theaters tritt ein kleiner dunkelhäutiger Herr herein, angetan mit Soutane und Priesterhut, in der Hand einen Blecheimer. So geht er durch den Raum bis an die Rampe und kippt in den als mächtige metallene Wanne ausgekleideten Orchestergraben eine Ladung - rohen Fleischs und Bluts. Viel schwimmt davon schon vorher in dem Graben. Macbeth hat seine tüchtigen Metzger...

Die Welt, ein Schlachthaus...
Dieses Ritual (hinten wumm, dann vorne platsch) wird sich im Laufe des Abends übrigens noch mehrmals wiederholen, und das zunächst verdutzte, aber keineswegs pikierte Publikum versteht den stummen Priester, der mit immergleicher Demut sein unheimliches Amt vollzieht - Sinnbild blutiger Macht oder Ohnmacht der Kirche - sehr bald auch als einen running gag der Inszenierung. Und tatsächlich ist jeder Auftritt des kleinen schwarzen Vaters eine Marginalie von grausiger Komik. In mein Programmheft notiere ich mir als Stichwort: "Pater Bokassa".

Es fehlt von Anfang an nicht an Aplomb und auch nicht an aparten Eindrücken. Die fürs erste dennoch nicht mehr als nur die wohlvertraute Einsicht verraten, daß die Welt ein Schlachthaus sei (und ist). Hans Kresnik folgt zu Beginn seines "Macbeth" einer schmalen Spur, entlang den von Gottfried Helnwein, dem österreichischen Bildartisten, virtuos aufpolierten Wegmarken des alten Stücks. Play Shakespeare heute, als szenische Collage, als Choreographie und Raumkunst mit Musik, in schnell wechselnden, durch Gongschläge und Blackouts gegeneinander abgesetzten Arrangements: Das Ensemble in weiße Tücher verhüllt, eine Schar lebender Mumien; später die Spieler in den zum Parkett hin senkrecht gestellten Badewannen als Verkrümmte, Verrenkte, Zusammengekrüppelte plaziert; oder die Wannen wie Särge im Raum verteilt, alle mit weißen Tüchern bedeckt, nur eines rot; dann bilden sich einzelne Figuren heraus, einer in der Uniform eines Admirals (oder Flugkapitäns), angetan mit einem Goldhemd, er ist Duncan, der König, der noch zu Lebzeiten auch eine Goldmaske tragen wird wie ein toter Herrscher der Antike; drei junge Frauen tanzen herein, drei weibliche Schwarze Sheriffs (oder SS-Frauen), mit schwarzen Aktenköfferchen, weißen Armbinden und einem runenhaften Symbol darauf, Blutstriemen im Gesicht - die Hexen; zwei fast nackte junge Männer umstreichen einander mit blitzenden, blutigen Messern, werden noch öfter sich (zu Pianomusik) wie in schwüler Trance zusammen räkeln und beim Pas de deux umschlängeln, bis einer den anderen schließlich aussticht: Macbeth den Freund Banquo, hier das Ende einer tödlichen Knabenliebe. Denn dieser Maebeth scheint fast noch ein Kind zu sein - die drei Hexen locken ihn, heben tänzelnd ihre engen Röcke, bieten ihm ihre (gummiverstärkten) Brüste, aus denen er statt Milch nur Blut saugt; und seine Lady, die femme fatale des zögerlich schwachen Jungen, trägt gleichfalls ihre Erkennungsfarbe: wenn sie nach dem Mord an Duncan das Blut von sich waschen will, reißt sie sich so viele Streifen Stoffs von ihrem roten Kleid, bis sie im weißen Unterrock (oder im Totenhemd) als letztem Fetzen steht...

www.helnwein.com/werke/theater/bild_590.html

Zwar sind die einzelnen Szenen, selbst die symbolisch überdeutlichen, fast immer mit tänzerischem und bildnerischem Raffinement entwickelt, und es sind neben den mysteriöseren auch so schlagend schöne Einfälle zu sehen wie ein stummes Spiel an Macbeths Abendtafel, bei dem - vor der Todesnacht - Duncans Königskrone erst zum Spaß und schließlich mit zunehmend groteskerer, gesteigerter Begierde von Kopf zu Kopf wandert und am Ende ein jeder in der Gesellschaft König spielt - oder den Königsmörder. Aber diese Erfindungen reichen zunächst kaum über Motiv-Variationen und Handlungs-Paraphrasen des alten Shakespearestücks hinaus. Natürlich kann Kresnik, weil er als Tanztheatermacher nicht an die Worte des Textes gebunden ist, dabei mit vielen mehr oder weniger freien Assoziationen spielen. Doch nach der Hälfte der eindreiviertelstündigen Inszenierung war noch keineswegs klar, ob Kresnik diese Freiheit auch wirklich genutzt hatte. Alles paßte irgendwie und hätte aber, voll "werktreuer Beliebigkeit", ebenso gut ganz anders sein können: die Hexen zum Beispiel, warum statt Schwarzer Sheriffs nicht auch drei Psychoanalytikerinnen?

Das Drama vom Königskiller und notorisch-neurotisch vereinsamenden Diktator - mit Messertänzen garniert, in eine ballettöse Sterbeklinik versetzt, das konnte ja nicht schon alles sein. So freilich durfte man eine gute Weile lang rätseln, welche eigene Geschichte (oder Variante) diese "Uraufführung" eines "Macbeth" wohl zu erzählen, zu ertanzen hatte.

Das große, grausame Kinder-Spiel
Am Ende waren dann gewiß nicht alle Rätsel des Heidelberger "Macbeth" gelöst. Aber mit mindestens drei grandiosen Szenen und einem fabelhaften letzten Spieldrittel haben Kresnik und Helnwein alle Fragen nach der ästhetischen Eigenmacht ihres Shakespeare-Tanzabends hinweggefegt.

Vorhang. Und wieder auf. Plötzlich ist die Bühne verwandelt. Kinder spielen in lustig gepunkteten Kleidern um einen überdimensionalen, bestimmt vier Meter hohen Frühstückstisch, auf dem putzig freundlich die 50 Liter-Kaffeekanne steht. Eine Idylle im Morgenlicht; wie Zwerglein recken sich und purzeln zwei Kinder auch aus der geöffneten Tischschublade - nach den vorangegangenen exaltierten Blut- und Messertänzen versetzt uns die Aufführung mit einer verblüffenden Zäsur nun in ein Wunderland der Alices und Gullivers, für die bald eine liebe junge Mutter sorgt. Später kommen durch die Eisentüre noch ein paar reizend lächelnde Herren in Ärztekitteln; auch sie tanzen mit den andern Ringelreihen, und nur die seltsam anzusehenden Eisenschnäbel an ihren Schuhen lassen Böses ahnen. Also fallen die Herren in Weiß irgendwann im Spiel über die Kindergesellschaft her, fangen an zu vergewaltigen, zu erhängen, zu verstümmeln, zu erschlagen, und nageln die Mutter, gefesselt und geknebelt, an ein Tischbein. Dann ist der Spuk schon vorbei, doch im Kopf bleibt ein überraschendes, wunderliches Bild: für Macbethens Auftrags-Mord an der Familie des Konkurrenten Macduff.

The Murder of the McDuff family:
www.helnwein.com/werke/theater/bild_63.html

Aber auch Macbeth selbst scheint spätestens jetzt in einen Alptraum geraten zu sein, als Fluch der Hexen-Sage und seiner eigenen (?) Taten. Ein Zauberlehrling, den die Geister hier zu früh für jede Meisterschaft beriefen. Als König, endlich, trägt er eine goldene bischofsähnliche Mütze nur wie eine Narrenkappe, und später stecken die drei Hexen, als Übermütter und Lustmädchen (in den unvermeidlichen schwarzen Strapsen), ihren kleinen Spielzeug-König und Königsspieler, nackt bis auf seinen Slip, in riesige schwarze Knobelbecher, in denen der junge Macbeth-Darsteller Joachim Siska erst trotzig und dann immer verzweifelter aufstampfen wird. Wie ein Kind, dem die Rolle dieses Spiels längst über den Kopf gewachsen ist. So tanzt Macbeth, "auf zu großem Fuß", in seinen ihn bis zu den Oberschenkein verschlingenden Stiefeln den absonderlichsten Steptanz. Allein auf der Bühne, alleingelassen von allen Mitspielern, auch von der angetrauten Über-Frau: Denn die, Susana Ibañez als Lady Macbeth, haben die eigenen Gewissensbisse buchstäblich aufgefressen - nachdem ihr an jedem Arm ein Krokodil gewachsen ist. Auch das eine grotesk-komische Szene, als Bild des Selbstverzehrens (durch zwei Handpuppen) könnte sie von Topor, dem großen Makabren, ersonnen sein.

Der Wald von Birnam und das Dickicht der Welt
Und Macbeth tanzt. Bis der Wald von Birnam ihn überkommt: durch riesige düstre Bleistifte, die sich wie Pfähle aus dem Schnürboden auf ihn herabsenken. Wiederum ein Zeichen aus dem Dickicht der Kind-Welt, an den Alptraum eines Schülers vor der Zensur erinnernd. Macbeth gelingt es, soeben den drohenden Spitzen zu entgehen, er tanzt noch ein paar verlorene Schritte zwischen den dunklen Stämmen, klammert sich an einen von ihnen, als hinten zum letzten Mal das Eisentor aufgeht und die Pfähle nun wie eine Burgwehr sich wieder heben, und baumelt halb in der Luft, in seinen lächerlichen Klobenstiefeln. Bis Macduff, der Macbeth bei Shakespeare im finalen Zweikampf tötet, hier aber waffenlos die Szene betreten hat, den fallenden, falschen Herrscher in seine Arme nimmt, ihm die Stiefel auszieht, ihn zu einer nunmehr wieder auf der Bühne stehenden Badewanne führt und ihm sehr ruhig, sehr fürsorglich ein Handtuch um den rechten Oberarm wickelt und ihm in die Wanne hilft. Dort schließt der Kind-Mörder, schließt das Mörder-Kind Macbeth die Augen, den Kopf auf die rechte Schulter gerutscht. Und Vorhang.

Nach diesem jähen, bis Sekunden vor dem Ende noch unvermuteten und daher (bei der Premiere) fast schockartigen Schluß-Tableau hätte es im Programmheft dazu des Fotos eines toten Barschels und auch des getöteten Marats in der Wanne nicht mehr bedurft. In jedem Fall war hier ein Kreis, auch zu den Anfangsszenen der Aufführung, geschlossen.

Doktor Kresnik oder: Ein Meister des Psycho-Terror-Tanzes
In Heidelberg hat Johann Kresnik nach den Künstler- und Kunst"biographien" von "Sylvia Plath" (TH 4/85), "Pasolini" (TH 4/86) und "Mörder Woyzeck" (TH 4/87) wiederum einen Fall von Mord und Tod und Selbstzerstörung inszeniert: allemal Vexierbilder gesellschaftlicher, familiärer (oder jetzt: mythischer) Gewalten und der melancholischen, der neurotisch aggressiven Innenspannung eines Einzelnen. Es sind das Krankheitsbilder des Lebens, von Hin- und Hergestoßenen, von Zerrissenen, sexuellen Außenseitern auch. Eros und Tod tanzen diesen Geschichten immer voraus, mit furiosen, fiebrigen Gebärden, und die Menschen folgen ihnen als ewig versehrte Kinder. "Zeige deine Wunde" - dieser Beuys-Titel könnte auch über allen Werken Kresniks stehen, und zum Zeigen der Traumata und Träume fallen diesem Meister des Psycho-Terror-Tanzes bisweilen Symbole und Metaphern ein wie keinem sonst. So ist Johann Kresnik, intellektuell noch stärker kontrolliert, ein Hans Neuenfels des wortlosen Dramas, der Bildenden Ballettkunst.

Wer aber und was war drum "Macbeth"? Shakespeare läßt seinen Helden gegen Ende sagen, in der 5. Szene des 5. Aktes: "... Aus, kleines Licht!/ Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild;/ Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht/ Sein Stündchen auf der Bühne und dann nicht mehr / Vernommen wird; ein Märchen ist's, erzählt/ Von einem Blöden, voller Lärm und Wut,/ Das nichts bedeutet."

Im Heidelberger Programmheft steht freilich kein Wort von Shakespeare und wenig über ihn. Dafür ein Text von Maupassant über einen jungen Mann, der zwei Menschen nur deswegen ermordet habe, weil sie seine Eltern waren. - Vielleicht war Duncan (der Flugkapitän, Harald Beutelstahl) hier für Macbeth zugleich eine Vater-Figur. Mag wohl sein. Oder auch nicht. Oder das Macht- und Mörderspiel glich nur ganz generell gewaltig einer kindlichen Allmachtsphantasie?

Wie schön, daß im Theater bislang noch jeder Zuschauer seinen eigenen Analytiker spielen kann. Auch bei Doktor Kresnik und Professor Helnwein. . . Die beiden machen Heidelbergs Theater eine Reise wert.