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Welt am Sonntag – 3. Juni 2001

Strawinskys "The Rake's Progress", 2001

STRAWINSKYS TEUFELSWERK AN DER OPER

von Engler

Das Haus an der Dammtorstrasse zeigt einen Klassiker der Moderne: Jürgen Flimm inszeniert "The Rake's Progress", Ingo Metzmacher dirigiert, und Gottfried Helnwein schuf das außergewöhnliche Bühnenbild. Der Maler, Fotograf, Bildhauer und Bühnenbildner Gottfried Helnwein gestaltet Bühne, Kostüme und Masken - nach Jörg Immendorff ist er der zweite Maler, der sich an die Strawinsky Oper wagt. Im Gegensatz zu dem Düsseldorfer Neuen Wilden geht Helnwein allerdings mit dem fotografischen Auge eines Kameramannes und mit großem Feingefühl als Kostüm- und Maskenerfinder zu Werke. "Was Gottfried Helnwein da gemacht hat, ist gewaltig," sagt der amerikanische Bassbariton David Pittsinger, ein erfahrener Strawinsky-Interpret, der in der Inszenierung den Teufel Nick Shadow singen wird. "Die Kostüme hat er als Maler entworfen, die Farben entsprechen den Klangfarben der Musik und denen der Figuren im Libretto," schwärmt der Sänger, dessen Lehrer Richard Cross noch selbst mit Strawinsky gearbeitet hatte.

Igor Strawinsky und Hamburg - das ist eine Geschichte inniger Verbundenheit. Alle wichtigen Werke des russischen Komponisten wurden in der Hansestadt gespielt, einige erlebten an der Elbe sogar ihre Uraufführung. "The Rake's Progress", die einzige abendfüllende Oper des Meisters, kam 1951 an die Dammtorstrasse. Jetzt wagt sich Jürgen Flimm, der 15 Jahre lang die Geschicke des Thalia Theaters lenkte, an das Werk. Premiere ist kommenden Sonntag. "The Rake's Progress" ist nach 20 Jahren Flimms erste Inszenierung an der Staatsoper.

Der "Werdegang eines Wüstlings", so die deutsche Übersetzung des Titels, wurde bisher in Anlehnung an Brecht meist als Nummernoper mit Stereotypen statt Menschen inszeniert. Der Geschichtenerzähler Flimm fasst das Stück dagegen naturalistisch auf - "vielleicht vergleichbar mit seiner 'Drei Schwestern'-Inszenierung am Thalia", meinte der leitende Dramaturg Christoph Becher. "Ihn interessieren die Menschen, die in den Figuren stecken, ihre Motive."

Der Maler, Fotograf, Bildhauer und Bühnenbildner Gottfried Helnwein gestaltet Bühne, Kostüme und Masken - nach Jörg Immendorff ist er der zweite Maler, der sich an die Strawinsky Oper wagt. Im Gegensatz zu dem Düsseldorfer Neuen Wilden geht Helnwein allerdings mit dem fotografischen Auge eines Kameramannes und mit großem Feingefühl als Kostüm- und Maskenerfinder zu Werke. Das Baseball-Cap tief in die Stirn und über den Rand der großen Brillengläser gezogen, die schwarze Bomberjacke hoch geschlossen, schleicht er zum Regiepult, wo sich Assistenten und Techniker, Schneider und Maskenbildner drängen.

"Was Gottfried Helnwein da gemacht hat, ist gewaltig," sagt der amerikanische Bassbariton David Pittsinger, ein erfahrener Strawinsky-Interpret, der in der Inszenierung den Teufel Nick Shadow singen wird. "Die Kostüme hat er als Maler entworfen, die Farben entsprechen den Klangfarben der Musik und denen der Figuren im Libretto," schwärmt der Sänger, dessen Lehrer Richard Cross noch selbst mit Strawinsky gearbeitet hatte. Cross wusste viel über die Absichten des Komponisten und gab dieses Wissen an seine Schüler weiter.

Zu der Herangehensweise des Malers passe auch die Arbeitsmethode von Jürgen Flimm, der, so Pittsinger, die Charaktere ebenfalls nicht nur aus dem Libretto, sondern auch aus der Musik heraus entwickelt habe - in enger Zusammenarbeit mit den Sängern, die als kreative, improvisationsfreudige Schauspieler gefragt waren.

David Pittsinger ist zurzeit einer der weltweit gefragtesten Darsteller des Nick Shadow, Rund 60 Mal hat er in die Partie dieses faustischen Teufels schon gesungen - unter anderem an der New Yorker Met, in Wien und am Brüsseler Théatre de la Monnaie. Wo er als ganz junger Mann einmal mit Ingo Metzmacher gearbeitet hat. Metzmacher wird auch jetzt wieder am Pult stehen - und erhält viel Lob von Pittsinger: "Mit dem Taktstock hat er eine perfekte Technik, die der von James Levine ziemlich ähnlich ist. Er dirigiert sehr klar und schlägt nie über die Stränge."

Für einen Sänger sei "The Rake's Progress" beim ersten Mal ein Albtraum, "das ist unglaublich hart zu erarbeiten". Sein Kollege, der amerikanische Tenor Bruce Fowler, der nächsten Sonntag als Tom Rakewell in der Hauptrolle debütiert, wird wissen, was er damit meint. Der Albtraum gewinne aber mit jeder Probe mehr an Magie, "bis sich daraus wie bei einem Puzzle ein wunderschönes Bild zusammensetzt."

Die Vorlage für "The Rake's Progress" bildet ein achtteiliger Bilderzyklus des englischen Malers und Kupferstechers William Hogarth, der in den Jahren 1732 und 1733 entstand und den Werdegang des Wüstlings Tom Rakewell schildert. Durch eine vom teuflischen Nick Shadow vorgetäuschte Erbschaft gerät der junge Tunichtgut Tom in der Großstadt London auf die schiefe Bahn, doch am Ende rettet ihn die nie ganz vergessene Liebe zu der reinen, auf dem Lande wartenden Unschuld Anne Trulove vor dem Höllenschlund.

1967 wurde "The Rake's Progress" zuletzt and der Hamburgischen Staatsoper inszeniert - Strawinsky hatte sich damals den italienischen Komponisten Gian Carlo Menotti als Regisseur gewünscht. Mittlerweile ist das Werk eine der meistgespielten Opern des 20. Jahrhunderts, von vielen großen Regisseuren in Szene gesetzt: Peter Sellars, Peter Mussbach, Ingmar Bergman, Robert Altman.

"Die Geschichte", meint David Pittsinger, "ist zeitlos. Sie berührt das Wesentliche unserer Natur: Seit Anbeginn der Menschheit machen wir dieselben Fehler, tun irgendwelche Dinge aus Neugier, Genusssucht oder anderen Gründen und merken viel zu spät, dass sie uns unglücklich machen oder zerstören." Wenn am Ende, nach einem furiosen Finale, die Wände der Irrenanstalt, in der Tom gelandet ist, zusammengebrochen sind, lässt Flimm die Hauptdarsteller noch einmal hervortreten und sie vorn an der Rampe diese Moral verkünden - ganz brechtisch mit dem Finger ins Publikum zeigend.

Bilder zu "The Rake's Progress" von Igor Strawinsky
Bühnenbild und Kostüme: Gottfried Helnwein
www.helnwein.org/werke/theater/group15/image.html

03.Jun.2001 Welt am Sonntag Engler

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